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Podiumsdiskussion - Grüne Stadt Essen Podiumsdiskussion - Grüne Stadt Essen mit Heiner Monheim v.l.n.r.: Heiner Monheim, George van de Woude, Michael Jahn, Wolfgang Weiß, Moderator Sven Plöger

2017-09-08Hans-Christian GeiseLesedauer: 4 Min.Provinz oder Metropole - Diskussion mit Prof. Heiner Monheim

Fußgänger stehen 200 Stunden jährlich im Stau

EssenDie Grüne Hauptstadt Europas hat am 7. September 2017 zum Thema „Provinz oder Metropole? Städte am Scheideweg urbaner Mobilität“ Heiner Monheim (Professor em. für Raumentwicklung, Universität Trier und Mitgesellschafter von raumkom – Institut für Raumentwicklung und Kommunikation) eingeladen. Rückblickend von der heutigen Verkehrssituation in Essen mit der für alle Verkehrsteilnehmer belastenden Stausituation auf den Straßen zeigt Monheim auf, wie der urbane Raum wieder attraktiver für alle Bewohner werden kann. Die im Vergleich zu anderen deutschen Metropolen von ihm als jämmerlich bewerteten ÖPNV-Anteile müssen nicht in dieser Form darniederliegen. Gerade die polyzentrische Struktur des Ruhrgebiets bietet Chancen; nicht alle Verkehre sind auf ein einziges Zentrum ausgerichtet; es bedarf aber weiterer Verknüpfungsbahnhöfe im Schienenverkehr. Etwa 50 Kreuzungspunkte von Schienenstrecken besitzen keine Umsteigemöglichkeiten; Im Ruhrgebiet wurde bislang zwar viel investiert aber wenig erreicht; beispielhaft ist hier das U-Bahn-System des Ruhrgebietes und der Rückbau eines einstmals ausgeprägten Straßenbahnnetzes bis weit in das Umland.
In Frankreich dagegen werden aktuell etwa drei Straßenbahnsystem pro Jahr neu geschaffen; die größten Investitionen in die Elektrifizierung vermeidet man durch den Einsatz von Akkus (Beispiel Bordeaux), die es ermöglichen nicht jede Strecke bis zum Ende mit Oberleitungen versehen zu müssen; auch in engen Altstädten ist so eine Straßenbahn wieder stadtverträglich zu realisieren.
Zentrale Aussage von Heiner Monheim ist es, Mobilität komplett neu zu denken; nur die Vernetzung der verschiedenen Verkehrsträger führt zum Erfolg. Dabei ist es wichtig das eigentliche Ziel im Auge zu behalten und nicht aufgrund kurzfristiger Entwicklungen den Prozess wieder abzubrechen. So ist das Semesterticket mittlerweile zu einem Erfolgsmodell geworden. Die Anzahl der Studenten, die ein eigenes Auto besitzen ist deutlich geringer als noch vor 20 Jahren; in der Anfangsphase sah das noch ganz anders aus. Zunächst ging nämlich der Radfahranteil unter den Studenten zurück, bevor die Entwicklung die heutige Richtung einschlug. Monheim gab den Politikern auf, den Mut zu haben, aus der bisherigen Wischiwaschi-Politik herauszukommen. Der Fahrradanteil von 40% in den 50er Jahren in Essen sei wieder erreichbar; Aber nicht, wenn wir uns so innovationsresistent verhalten wie bisher.
In der anschließenden Diskussion wies Michael Jahn (Leiter Kompetenzteam Smart Cities, PricewaterhouseCoopers) auf die Problematik hin, dass eine Familie mit Kind sich aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen fast gar nicht ohne Auto organisieren kann. Ein Bewegen zwischen Wohnung, Kita/Schule, Arbeit und Einkaufen ist aufgrund der Entfernungen und der zeitlichen Anforderungen nur schwer anders zu bewältigen. Das ist auch auf die zu langen Fahrzeiten im ÖPNV zurückzuführen. Hier bietet die Digitalisierung Anknüpfungspunkte für Verbesserungen und die Umsetzung neuer Ideen. Sharingsysteme haben mit Auto und Fahrrad gerade erst begonnen; Multimodale Verkehre lassen sich mit Echtzeitdaten noch passgenauer organisieren.

George van de Woude (Programm Manager Mobilität, Stadt Nijmegen) brachte aus der niederländischen Stadt, in der 50% der Studenten mit dem Fahrrad unterwegs sind, die Erkenntnis mit, dass es durchaus möglich ist, die Bedürfnisse der Autofahrer und Fahrradfahrer in Einklang zu bringen. Entscheidend ist, dass die Politik sachorientiert arbeitet und parteiübergreifend die Notwendigkeit sieht, nicht nur eine Verkehrsart zu optimieren, sondern einen Ausgleich zu schaffen. Es muss aber auch im Bewusstsein der Menschen ankommen, dass die Wahl zwischen den verschiedenen Verkehrsmitteln besteht. Dazu bedarf es geeigneter Infrastruktur. So dienen die Radschnellwege als Rückgrat für die schnelle Vernetzung; das Radverkehrsnetz muss aber bis vor die Haustür gedacht werden, um den ersten Anreiz für das umweltfreundliche Verkehrsmittel zu setzen. Darauf lässt sich mit passenden Kommunikationsstrategien aufsetzen. Nicht immer ist es dafür notwendig, Gesetze anzupassen. Vielfach wird der Fortschritt auch nur mit Ausreden verstellt.

Wolfgang Weiß (Strategische Planung, Verkehrsbetriebe Karlsruhe GmbH) aus Karlsruhe brachte die erstaunliche Information mit, dass laut einer ADAC-Umfrage 40% der Autofahrer nicht nur bereit wären, den ÖPNV zu nutzen, sondern dies sogar gerne tun würden. Hier gilt es, dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen und Konzepte nicht nur bis zum Ende zu denken, sondern dann auch im Rahmen z. B. eines 10-Jahresprogramms langfristig zu verfolgen.
Wichtig ist es, dabei nicht nur den Siedlungskern zu berücksichtigen, sondern auch das Umland zu betrachten. Karlsruhe hat das Tramtrain-Konzept erfunden: Aus den Umlandgemeinden wird mit Stadtbahnwagen die DB-Infrastruktur genutzt und im Stadtgebiet Karlsruhe fahren dieselben Stadtbahnen umstiegsfrei als Straßenbahn bis ins Zentrum, damit ist es innerhalb von zwei Jahren gelungen, die Kundenzahl zu vervierfachen.
Karlsruhe ist mittlerweile nach Münster die Fahrradstadt Nr. 2 in Deutschland. Konsequent wurden alle Straßen mit für alle Fahrräder tauglichen Radverkehrsanlagen ausgestattet. Hier können nicht nur Eltern mit Kinderanhängern sicher fahren; hier sind Kinder, Lastenräder und ältere Menschen auf mehrspurigen Rädern unterwegs. Das nächste Ziel ist es, Kinder bereits ab dem zweiten Schuljahr zu befähigen, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren und ab dem vierten Schuljahr sollen sie den ÖPNV verstehen.
Mit Bürgerbefragungen wurde der Nahverkehrsplan im Dialog aufgestellt. Karlsruhe zeigt, dass man auch konsequent dranbleiben will: Eine weitere Milliarde Euro soll in Zukunft investiert werden.
Wir haben viele Jahre Glück gehabt mit dem Stadtrat, erklärte Weiß dieses Ergebnis.


Fazit
Die Rahmenbedingungen (Lärmbelastung, Schadstoffemissionen, Flächenverbrauch, Zeitverlust), lassen sich mit der heutigen Organisation unserer Mobilität nicht mehr ausreichend verbessern. Während Fußgänger 200 Stunden jährlich im Verkehr vor roten Ampeln verbringen, stehen Autofahrer in der Stauhauptstadt München „nur“ 49 Stunden. Das zeigt bereits, dass die Probleme nicht dadurch gelöst werden können, dem Auto noch mehr Raum zur Verfügung zu stellen. Es gilt, intelligente Konzepte auf den Weg zu bringen um den urbanen Raum für die Menschen wieder zu einem attraktiven Ort werden zu lassen. Fußgänger und Radfahrer brauchen dafür eine sichere Infrastruktur; der ÖPNV schnelle Verbindungen mit engen Takten und kurzen Umsteigezeiten. Dass dies funktionieren kann, wenn man die Menschen auf diesem Weg mitnimmt, sieht man am Beispiel Karlsruhe.
Den Menschen vor Ort auch zukünftig die Mobilität zu erhalten, hängt wesentlich vom Willen der politisch Handelnden ab.